Vollbremsung bei Alpha Centauri
Raumfahrtvisionäre denken über eine interstellare Reise zu unserem Nachbarstern nach
Im April vergangenen Jahres verkündete der Milliardär Juri Milner die Breakthrough-Starshot-Initiative. 100 Millionen US-Dollar will er in die Entwicklung eines Nanoraumschiffs investieren, das bis auf 20 Prozent der Lichtgeschwindigkeit beschleunigt werden kann, um innerhalb von 20 Jahren das Sternsystem Alpha Centauri zu erreichen. Ungelöst blieb bisher die Frage, wie das Geschoss am Ziel abbremsen soll. René Heller vom Max-Planck-Institut für Sonnensystemforschung in Göttingen und sein Kollege Michael Hippke schlagen vor, Strahlung und Schwerkraft der Sterne zu nutzen. Dann ließe sich das Vehikel sogar zum Begleitstern Proxima Centauri und dessen erdähnlichem Planeten Proxima b umlenken.
In dem aktuellen Science-Fiction-Film Passengers fliegt ein riesiges Raumschiff mit halber Lichtgeschwindigkeit zum fernen Planeten Homestead II. Nach 120 Jahren soll es sein Ziel erreichen, und die 5000 Passagiere sollen die neue Heimat besiedeln. Ein Traum, der sich nach derzeitigem Kenntnisstand technisch nicht realisieren lässt. „Mit heutiger Technik würden wir für einen solchen Flug mit einer kleinen Sonde fast 100.000 Jahre benötigen“, sagt René Heller.
Immerhin: Auch Milners Starshot-Projekt mutet fantastisch an, basiert es doch auf einem völlig neuen Konzept: Viele, nur wenige Gramm wiegende, mit einem leichten Sonnensegel ausgestattete Sonden werden zunächst konventionell in eine große Höhe gebracht und dann mit einem riesigen leistungsstarken Laserstrahl von der Erde aus angestrahlt. Der Lichtdruck beschleunigt die Nanoschiffe in wenigen Minuten bis auf 20 Prozent der Lichtgeschwindigkeit und treibt sie in Richtung des 4,2 Lichtjahre entfernten Sternsystems Alpha Centauri, wo sie 20 Jahre später ankommen.
Ungeachtet der technischen Anforderungen stellten Heller und sein Kollege Michael Hippke sich die Frage: „Wie könnte man bei einer solchen Mission die wissenschaftliche Ausbeute optimieren?“ Eine derart schnelle Sonde legt eine Strecke wie die zwischen Erde und Mond in nur sechs Sekunden zurück. Sie wäre also in kurzer Zeit an den Sternen und Planeten im Alpha-Centauri-System vorbeigerast.
Die Lösung: Das Segel der Sonde muss bei seiner Ankunft so ausgerichtet sein, dass die ihm entgegenkommende Strahlung der Sterne im Alpha-Centauri-System das Gefährt maximal abbremst. In Michael Hippke fand René Heller, als Astrophysiker an den Vorbereitungen der Exoplanet-Mission PLATO beteiligt, einen kongenialen Partner, der die Computersimulationen erstellte.
Dabei gingen die beiden Astrophysiker von einer Raumsonde aus, die insgesamt weniger als 100 Gramm wiegt und mit einem 100.000 Quadratmeter großen Segel ausgestattet ist. Das entspricht der Fläche von 14 Fußballfeldern. Mit der Annäherung an Alpha Centauri wächst die Bremskraft. Je stärker die Bremsung ist, desto mehr Geschwindigkeit kann bei der Ankunft abgebaut werden und desto schneller darf die Sonde bei ihrem Start im Sonnensystem sein.
Nähert sich das winzige Raumschiff dem Stern bis auf etwa vier Millionen Kilometer (entsprechend fünf Sternradien), so darf es mit einer maximalen Geschwindigkeit von 13.800 Kilometern pro Sekunde (4,6 Prozent der Lichtgeschwindigkeit) ankommen – mit höheren Geschwindigkeiten würde die Sonde am Stern vorbeirasen.
Gleichzeitig zieht der Stern die Sonde mit seiner Schwerkraft an. Dieser Effekt ließe sich nutzen, um sie auf ihrer Bahn abzulenken; solche Swing-by-Manöver haben Raumsonden in unserem Sonnensystem vielfach ausgeführt. „Mit diesen Bahnparametern wäre die Sonde knapp 100 Jahre unterwegs“, sagt Michael Hippke, „ungefähr doppelt so lange wie die Voyager-Sonden, die seit den 1970er-Jahren unterwegs sind und noch immer funktionieren.“
Theoretisch könnte das Nanoschiff in eine Umlaufbahn um Alpha-Centauri einschwenken und eventuell dessen Planeten erkunden. Heller und Hippke denken aber noch weiter. Hierzu muss man wissen, dass Alpha Centauri ein Dreifachsternsystem ist. Die beiden Partner A und B umrunden sich auf einer sehr engen Bahn, während der dritte namens Proxima Centauri 0,22 Lichtjahre entfernt ist.
Nun könnte sich das Segel so ausrichten, dass der Strahlungsdruck von Stern A die Sonde so stark abbremst und ablenkt, dass diese schon nach wenigen Tagen Alpha Centauri B erreicht und dort nochmals abgebremst in Richtung von Proxima Centauri geschleudert wird. Dort würde sie nach weiteren 46 Jahren ankommen – also rund 140 Jahre nach dem Start von der Erde.
Proxima Centauri sorgte im August 2016 für Aufsehen, weil Astronomen der Europäischen Südsternwarte (ESO) einen Exoplaneten entdeckt hatten, der in etwa so massereich wie die Erde ist und den Stern in der bewohnbaren Zone umkreist. Damit ist es theoretisch möglich, dass auf ihm flüssiges Wasser existiert – eine wichtige Voraussetzung für Leben, zumindest auf der Erde.
„Dieser Fund hat uns zusätzlich animiert, über mögliche Flugbahnen zu diesem Stern mit einer anschließenden Parkbahn um seinen Planeten nachzudenken“, sagt René Heller. Der Max-Planck-Forscher und sein Kollege schlagen für die Strategie des Starshot-Projekts noch eine weitere Veränderung vor: Anstelle eines riesigen energiefressenden Lasers ließe sich auch die Sonnenstrahlung nutzen, um eine Nanosonde aus dem Planetensystem heraus zu beschleunigen. „Hierfür müsste sie sich bis auf etwa fünf Sonnenradien der Sonne nähern, damit sie von dort aus den nötigen Schub erhält“, sagt Heller.
Die beiden Astronomen befinden sich bereits im Austausch mit den Teilnehmern des Starshot-Projekts. „Zusammen mit den Wissenschaftlern und Strategen von Breakthrough Starshot überlegen wir, ob unsere neue Idee Einfluss auf Starshot oder eine Folgemission haben könnte“, so Heller.
Zwar fußt das beschriebene neue Szenario auf einer mathematischen Studie und Computersimulationen, doch für die benötigte Hardware gibt es bereits Ideen: „Das Segel könnte aus Graphen bestehen, einer extrem dünnen und leichten, aber megareißfesten Kohlenstofffolie“, sagt René Heller. Die Folie müsste die harschen Bedingungen auf der Reise und die Hitze nahe am Stern überstehen.
Optik und Elektronik müssten winzig sein. Aber: Wenn man von einem modernen Smartphone alle für die Funktion unwichtigen Teile entfernt, „bleiben nur wenige Gramm an funktionsrelevanter Technik übrig.“ Darüber hinaus müsste das leichtgewichtige Raumsegel eigenständig navigieren und seine Messungen per Laser zur Erde übermitteln. Dafür benötigte es Energie, die es eventuell von der Sterneneinstrahlung ernten könnte.
Breakthrough Starshot stellt die Forscher also vor extreme Herausforderungen, die sich bisher ausschließlich theoretisch lösen lassen. Dennoch: „Viele großen Visionen in der Menschheitsgeschichte hatten mit schier unüberwindbaren Hürden zu kämpfen“, sagt Heller. „Und nun nähern wir uns einem Zeitalter, in dem die Menschen ihr eigenes Sternsystem verlassen und extrasolare Planeten aus der Nähe erforschen können.“
TB