Unerwartet langsame Bewegungen unter der Sonnenoberfläche
Neue Beobachtungen seismischer Schwingungen an der Sonnenoberfläche stellen unser bisheriges Verständnis der Dynamik des Sonneninneren auf die Probe
Die inneren Bewegungen der Sonne sind viel langsamer als vorhergesagt. Anstatt mit der Geschwindigkeit eines Düsenflugzeugs, wie bisher geglaubt, strömt das Plasma dort im Schritttempo. Zu diesem Ergebnis kommen Forscher unter Leitung des Max-Planck-Instituts für Sonnensystemforschung in Katlenburg-Lindau in einer kommenden Ausgabe des Fachmagazins Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America (PNAS). Um ins Innere der Sonne zu blicken, nutzen die Wissenschaftler Beobachtungen solarer Oszillationen, die ihnen mithilfe des Solar Dynamics Observatory der NASA gelungen sind. Wie Laurent Gizon und Aaron Birch vom Max-Planck-Institut für Sonnensystemforschung in derselben Ausgabe von PNAS kommentieren, zeigen die neuen Beobachtungen, wie sich mithilfe von SDO-Daten und Helioseismologie das Sonneninnere auf einzigartige Weise erforschen lässt.
In ihrem äußeren Drittel gleicht die Sonne einem Topf mit kochendem Wasser: Getrieben von der gewaltigen Hitze im Innern des Sterns steigt heißes Plasma auf, kühlt weiter oben ab und sinkt dann wieder hinunter. Dieser Vorgang, den Wissenschaftler als Konvektion bezeichnen, transportiert Energie nach außen und bestimmt Struktur und Entwicklung der Sonne.
Den Forschern um Shravan Hanasoge vom Max-Planck-Institut für Sonnensystemforschung ist es nun erstmals gelungen, mithilfe der Helioseismologie die Vorgänge in der Konvektionsschicht aus direkten Beobachtungen der Sonnenoberfläche abzuleiten. Die Helioseismologie ähnelt der irdischen Seismologie. „Wir beobachten Oszillationen der Sonnenoberfläche und nutzen diese, um auf Eigenschaften wie etwa Ströme im Sonneninneren zu schließen”, erklärt Laurent Gizon, Leiter der Abteilung „Physik des Inneren der Sonne und sonnenähnlicher Sterne” am Max-Planck-Institut für Sonnensystemforschung und Professor am Institut für Astrophysik der Universität Göttingen.
Das Plasma strömt mit weniger als einem Meter pro Sekunde
Das Team, zu dem auch amerikanische Forscher der Princeton University, des NASA Goddard Flight Center und der New York University gehören, war in der Lage, die Strömungsgeschwindigkeiten des Plasmas in einer Tiefe von 55000 Kilometern zu bestimmen. Diese Tiefe entspricht acht Prozent des Sonnenradius. Überraschenderweise stellte sich heraus, dass die Strömungsgeschwindigkeiten kleiner als einige Meter pro Sekunde sind. „Das ist hundert Mal weniger als numerische Modelle solarer Konvektion vorhersagen”, ordnet Gizon die neuen Ergebnisse ein.
Schlüssel zu den neuen Ergebnissen waren Daten des NASA-Sonnenobservatoriums SDO, das die Sonnenoberfläche seit Anfang 2010 vom All aus beobachtet. Die Wissenschaftler werteten Messungen des Instruments Helioseismic and Magnetic Imager (HMI) aus. Nur die einzigartige Kombination aus hoher Auflösung und voller räumlicher Abdeckung, die das Sonnenobservatorium bietet, hat diese Analyse ermöglicht. Die riesigen Datenmengen (täglich tausende hochaufgelöste Aufnahmen der gesamten Sonne), die HMI sammelt, werden am Max-Planck-Institut für Sonnensystemforschung im German Data Center for SDO archiviert und aufbereitet, einer in Europa einmaligen Einrichtung.
Akustische Wellen in der Sonne verraten die Geschwindigkeit von Konvektionsströmen
Das HMI-Instrument misst die Strömungsgeschwindigkeit der Sonnenoberfläche. Erreicht eine solare akustische Welle, die im Innern der Sonne gefangen ist, die Oberfläche, so bewegt sie diese – und kann somit vom Instrument HMI erfasst werden. Auf diese Weise konnten die Forscher die Zeit messen, die eine solare akustische Welle braucht, um sich von einem Punkt an der Sonnenoberfläche durch das Innere zu einem anderen Punkt an der Oberfläche auszubreiten. Dabei beeinflussen die Konvektionsströme tief im Innern die Ausbreitungsgeschwindigkeit. So ist es möglich, aus der Messung dieser Ausbreitungsgeschwindigkeiten etwas über die Geschwindigkeit der Konvektionsströme zu lernen. Wie sich dabei das Zusammenspiel solarer akustischer Wellen und der Konvektion modellieren lässt, ist eine aktuelle Fragestellung, der Wissenschaftler im Rahmen des Sonderforschungsbereichs „Astrophysikalische Strömungsinstabilität und Turbulenz“ der Deutschen Forschungsgemeinschaft am Max-Planck-Institut für Sonnensystemforschung und der Universität Göttingen nachgehen.
„Diese unerwartet niedrigen Geschwindigkeiten, die mithilfe der Helioseismologie gemessen wurden, sind das bemerkenswerteste helioseismologische Ergebnis seit dem Start von SDO”, sagt Gizon. „Es gibt keine offensichtliche Möglichkeit, die neuen Beobachtungen und die Theorie miteinander zu versöhnen”, ergänzt Birch. Gizon urteilt zudem: „Die neuen Erkenntnisse werfen nicht nur ein neues Licht auf die Sonne, sondern auch auf unsere derzeitige Unfähigkeit, einen der grundlegendsten physikalischen Prozesse in der Sonne und anderen Sternen zu verstehen: die Konvektion.”