Im dynamischen Netz der Sonnenkorona
In der mittleren Korona der Sonne entdeckt ein Forscherteam netzartige, dynamische Plasmastrukturen – und einen wichtigen Hinweis auf den Antrieb des Sonnenwindes.
Mit Hilfe von Messdaten der amerikanischen Wettersatelliten GOES hat ein Forscherteam unter Leitung des Max-Planck-Instituts für Sonnensystemforschung (MPS) einen wichtigen Schritt getan, der Sonne eines ihrer hartnäckigsten Geheimnisse zu entlocken: Wie gelingt es unserem Stern, den Sonnenwind ins All zu schleudern? Die Messdaten erlauben einen einzigartigen Blick auf eine Schlüsselregion in der Sonnenkorona, zu der Forschende bisher kaum Zugang hatten. Dort hat das Team erstmals ein dynamisches Netz langgezogener, verwobener Plasmastrukturen sichtbar gemacht. Zusammen mit Daten anderer Raumsonden und umfangreichen Computersimulationen zeigt sich ein klares Bild: Dort, wo die langen Fäden des koronalen Netzes wechselwirken, entlädt sich magnetische Energie – und Teilchen entweichen ins All. Das Team, zu dem auch Forscher des Southwest Research Institute (Boulder, USA), der Predictive Science Inc. (San Diego, USA) und dem Goddard Space Flight Center der NASA (Greenbelt, USA) gehören, berichtet von seinen Ergebnissen in der heutigen Ausgabe der Fachzeitschrift Nature Astronomy.
Die Wettersatelliten GOES (Geostationary Operational Environmental Satellites) der Wetter- und Ozeanographiebehörde (NOAA) der USA haben traditionell anderes als die Sonne im Sinn. Seit 1974 kreist das Satellitensystem in einer Höhe von etwa 36000 Kilometern um unseren Planeten und liefert ununterbrochen erdbezogene Daten etwa zur Wetter- und Sturmvorhersage. Im Laufe der Jahre wurde die ursprüngliche Konfiguration um neuere Satelliten erweitert. Die drei jüngsten Mitglieder der Satellitenfamilie, die derzeit in Betrieb sind, sind zusätzlich mit Instrumenten ausgestattet, die zur Vorhersage des Weltraumwetters auf die Sonne schauen. Sie können die ultraviolette Strahlung aus der Korona unseres Sterns abbilden.
Eine besondere Messkampagne fand im August und September 2018 statt. Ihr Ziel war es, die ausgedehnte Sonnenkorona abzubilden. Mehr als einen Monat lang schaute das GOES-Sonneninstrument Solar Ultraviolet Imager (SUVI) nicht nur so wie sonst direkt auf die Sonne, sondern fing auch Aufnahmen ein, die seitlich versetzt waren. "Wir hatten die seltene Gelegenheit, das Instrument auf ungewöhnliche Weise einzusetzen und so eine Region zu beobachten, die noch nicht wirklich erforscht wurde", sagt Dr. Dan Seaton vom Southwest Research Institute, der während der Beobachtungskampagne als leitender Wissenschaftler für SUVI tätig war. "Wir wussten nicht einmal, ob es funktionieren würde, aber wir wussten, dass wir wichtige Entdeckungen machen würden, wenn es funktioniert.
Durch Zusammensetzen der Bilder aus den verschiedenen Blickwinkeln ließ sich das Sichtfeld des Instrumentes deutlich vergrößern und so erstmals die komplette mittlere Korona, eine Schicht der Sonnenatmosphäre, die 350.000 Kilometer (also etwa einen halben Sonnenradius) oberhalb der sichtbaren Sonnenoberfläche beginnt, im ultravioletten Licht abbilden.
Andere Raumsonden, welche die Sonne untersuchen und Daten aus der Korona sammeln, wie etwa die NASA-Sonde Solar Dynamics Observatory (SDO) oder das Solar and Heliospheric Observatory (SOHO) von NASA und ESA, blicken in tiefer- oder höherliegende Schichten. „In der mittleren Korona hatte die Sonnenforschung bisher eine Art blinden Fleck. Die GOES-Daten sorgen hier für eine deutliche Verbesserung“, so Dr. Pradeep Chitta vom MPS, Erstautor der neuen Studie. In der mittleren Korona vermuten Forscherinnen und Forscher Prozesse, die den Sonnenwind antreiben und modulieren.
Mit Überschallgeschwindigkeit durchs All
Der Sonnenwind ist eines der raumgreifendsten Merkmale unseres Sterns. Der Strom aus geladenen Teilchen, den die Sonne ins All schleudert, strömt bis an den Rand unseres Sonnensystems und erzeugt so die Heliosphäre, eine Blase dünnen Plasmas, das den Einflussbereich der Sonne markiert. Je nach Geschwindigkeit wird der Sonnenwind in eine schnelle und langsame Komponente unterteilt. Der so genannte schnelle Sonnenwind, der Geschwindigkeiten von mehr als 500 Kilometern pro Sekunde erreicht, stammt aus dem Inneren der koronalen Löcher. Das sind Regionen, die in der ultravioletten Strahlung aus der Korona dunkel erscheinen. Wo der langsame Sonnenwind seinen Ursprung nimmt, ist unklarer. Doch selbst diese langsameren Teilchen rasen mit Überschallgeschwindigkeiten von 300 bis 500 Kilometern pro Sekunde durchs All.
Diese langsame Komponente des Sonnenwindes wirft noch immer viele Fragen auf. Mehr als eine Million Grad heißes Plasma aus der Korona muss der Sonne entkommen, um den langsamen Sonnenwind zu bilden. Welcher Mechanismus ist hier am Werk? Zudem ist der langsame Sonnenwind nicht homogen, sondern offenbart zumindest teilweise eine strahlenartige Feinstruktur. Wo und wie entsteht sie? Diesen Fragen geht die neue Studie nach.
Ein Blick in die mittlere Korona
In den GOES-Daten zeigt sich in Äquatornähe eine Region, die das besondere Interesse der Forscherinnen und Forscher weckte: zwei koronale Löcher, von denen der Sonnenwind ungehindert fortströmt, in unmittelbarer Nachbarschaft zu einem Bereich hoher Magnetfeldstärke. Wechselwirkungen zwischen Systemen wie diesen gelten als mögliche Ausgangspunkte für den langsamen Sonnenwind. Oberhalb dieser Region durchziehen langgezogene, radial nach außen weisende Plasmastrukturen die mittlere Korona. Als koronales Netz bezeichnet das Autorenteam das Phänomen, das mit Hilfe der GOES-Satelliten jetzt erstmals direkt abgebildet wird. Das Netz ist ständig in Bewegung: Seine langgezogenen Strukturen kreuzen einander und gruppieren sich um.
Eine ähnliche Architektur des Sonnenplasmas kennen Forscherinnen und Forscher seit Langem aus der äußeren Korona. Aufnahmen aus diesem Bereich im sichtbaren Licht liefert seit Jahrzehnten der Koronograph LASCO (Large Angle and Spectrometric Coronagraph) an Bord der Raumsonde SOHO, die im vergangenen Jahr ihr 25-jähriges Dienstjubiläum feierte. Die strahlenartigen Ströme in der äußeren Korona deuten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler als Feinstruktur des langsamen Sonnenwindes, der in der äußeren Korona seine Reise ins All beginnt. Wie die neue Studie nun eindrucksvoll zeigt, herrscht diese Feinstruktur bereits in der mittleren Korona vor.
Einfluss des solaren Magnetfeldes
Um das Phänomen besser zu verstehen, wertete das Forscherteam auch Daten weiterer Raumsonden aus: Der NASA-Sonnenspäher Solar Dynamics Observatory (SDO) ermöglichte den zeitgleichen Blick auf die Oberfläche der Sonne; die Raumsonde STEREO-A, die seit 2006 der Erde auf ihrer Umlaufbahn um die Sonne vorauseilt, bot eine Perspektive von der Seite.
Mit modernen Berechnungsmethoden, die Beobachtungsdaten von der Sonne einbeziehen, können Forscherinnen und Forscher mit Hilfe von Supercomputern realistische 3D-Modelle des schwer fassbaren Magnetfelds in der Sonnenkorona erstellen. In dieser Studie verwendete das Team ein modernes magnetohydrodynamisches (MHD) Modell, um das Magnetfeld und den Plasmazustand der Korona für diesen Zeitraum zu simulieren. "Dies hat uns geholfen, die faszinierende Dynamik, die wir in der mittleren Korona beobachtet haben, mit den vorherrschenden Theorien über die Entstehung des Sonnenwindes zu verbinden", sagt Dr. Cooper Downs von Predictive Science Inc., der die Computersimulationen durchgeführt hat.
Wie die Rechnungen nahelegen, folgen die Plasmastrukturen des koronalen Netzes dem Verlauf der Magnetfeldlinien. „Wir gehen davon aus, dass sich die Architektur des Magnetfeldes auf den langsamen Sonnenwind überträgt und eine wichtige Rolle bei der Beschleunigung der Sonnenwindteilchen ins All spielt“, so Chitta. Demnach fließt das heiße Sonnenplasma in der mittleren Korona entlang der offenen Magnetfeldlinien des koronalen Netzes. Wo sich die Feldlinien kreuzen und wechselwirken, wird Energie frei.
Viel spricht dafür, dass die Forscherinnen und Forscher einem grundsätzlichen Phänomen auf der Spur sind. „In Phasen hoher Sonnenaktivität treten in Äquatornähe koronale Löcher häufig in unmittelbarer Nachbarschaft zu Gebieten hoher Magnetfeldstärke auf“, so Chitta. „Das koronale Netz, das wir beobachtet haben, dürfte deshalb kein Einzelfall sein“, fügt er hinzu.
Weitere und detaillierte Erkenntnisse erhofft sich das Team von künftigen Sonnenmissionen. Einige von ihnen wie etwa die für 2024 geplante ESA-Mission Proba-3 sind mit Instrumenten ausgerüstet, die speziell die mittlere Korona ins Visier nehmen. Das MPS ist an der Verarbeitung und Auswertung der Daten beteiligt. Zusammen mit Messdaten von bereits aktiven Sonden wie der Parker Solar Probe der NASA und dem Solar Orbiter der ESA, die die Verbindungslinie zwischen Sonne und Erde verlassen, wird so ein besseres Verständnis der dreidimensionalen Struktur des koronalen Netzes möglich.